Die Karte zeigt 37 Gemeinden, die mit besonders niedrigen Steuersätzen Unternehmen anziehen. Die Höhe der Gewerbesteuer darf jede Gemeinde in Deutschland selbst festlegen.
Dadurch müssen Firmen zum Beispiel in München mehr als doppelt so viel Gewerbesteuer auf ihren Gewinn zahlen wie im angrenzenden Grünwald. Der Grundgedanke dahinter: Wirtschaftsschwache Regionen sollen so Standortnachteile ausgleichen können und dafür sorgen, dass sich neue Unternehmen ansiedeln oder bestehende Firmen nicht abwandern. In der Realität führt dieses Prinzip zu einem Unterbietungswettbewerb zwischen Gemeinden, bei dem Unternehmen profitieren und es einen klaren Verlierer gibt: die Allgemeinheit. Rund eine Milliarde Euro gehen den öffentlichen Kassen nach Schätzungen jedes Jahr durch Gewerbesteueroasen verloren. Es ist Geld, das in Spielplätze, Straßenreinigung oder Schulsanierungen fließen könnte.
Der Blick in die Gemeinden zeigt: Neben den ortsansässigen Gewerbetreibenden haben sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten etliche weitere Unternehmen dort angesiedelt. Mal sind es Tochterfirmen großer DAX-Konzerne, mal Immobilienholdings, mal die Vermögensverwaltungen von Prominenten, die in Orten wie Grünwald, Lützen oder Monheim am Rhein ihren Geschäftssitz anmelden.
Zuweilen teilen sich hunderte Unternehmen eine Adresse – in einem Fall sind es mehr als tausend Firmen.
Unsere Karte macht sichtbar, wie viele Unternehmen an einer Adresse gemeldet sind – je mehr Unternehmen, desto höher ist der Balken.
Ein Klick auf die Adresse verrät, wie viele Unternehmen dort gemeldet sind. Und welche.
Viele dieser Steueroasen haben wir nicht nur digital erkundet. Und nicht immer hatten wir den Eindruck, dass in den Häusern mit den langen Unternehmenslisten an den Briefkästen regelmäßig gearbeitet wird.
Etwa in einer kleinen Ortschaft in Sachsen-Anhalt, die zur Stadt Lützen zählt – und damit die niedrigste Gewerbesteuer des Bundeslandes bietet. An einem baufälligen Bauernhaus stehen die Namen von 25 Firmen einer Leipziger Immobiliengruppe am Briefkasten. Laut Handelsregister sind ein paar der Unternehmen vor kurzem umgezogen oder wurden aufgelöst. Auch das zuständige Finanzamt hat bereits 2023 zur Prüfung an dem Bauernhaus vorbeigeschaut. Mit welchem Ergebnis? Steuergeheimnis.
Sollte eine Firma die Betriebsstätte in einer Steueroase nur vortäuschen, während die Arbeit in Wirklichkeit in einer anderen Gemeinde erledigt wird, wäre dies eine Straftat: Steuerhinterziehung. Doch das zweifelsfrei nachzuweisen, ist schwierig. Vor allem, weil es oft Vermögensverwaltungen, Holdings und Beteiligungsgesellschaften sind, die sich in deutschen Steueroasen ansiedeln. Sie brauchen wenig oder gar kein Personal und verwalten zugleich enorme Summen.
Wie etwa mehrere Tochterfirmen der Deutschen Bank, die seit Jahren ebenfalls in Lützen sitzen – in einem Gemeindezentrum im winzigen Ortsteil Sössen und im Gerätehaus der Freiwilligen Feuerwehr. Zusammen verfügen die drei Firmen in der 200-Seelen-Ortschaft über ein Eigenkapital von mehr als 10 Milliarden Euro.
Die Gemeinde Lützen erklärt, sie könne bestätigen, dass durch die Tochterfirmen der Deutschen Bank „Tätigkeiten vor Ort ausgeübt werden“. Die Deutsche Bank teilt uns mit, die Geschäftsleitung der Gesellschaften erfolge in Lützen und die Geschäftsführer seien regelmäßig vor Ort. In Google-Rezensionen loben Menschen den Firmenstandort im Gemeindezentrum als „super Räumlichkeiten für private Feiern“.
Was betont werden muss: Nicht jede Firma in einer Steueroase ist automatisch eine Briefkastenfirma. Das gilt für den lokalen Klempner oder die Bäckerin genauso wie für alle mehr oder weniger finanzstarken Unternehmen, die sich dort ansiedeln. Drei DAX-Konzerne haben ihren Hauptsitz in einer der Gemeinden, die wir als Steueroasen identifiziert haben und beschäftigen dort zahlreiche Mitarbeitende.
Auch wer aus finanziellen Gründen seine Firmen in einer Steueroase anmeldet, überschreitet damit nicht automatisch die Grenze zur Illegalität. Entscheidend ist, ob dort tatsächlich gearbeitet wird. Zugleich zeigt unsere Karte ein bundesweites System, das Fragen zur Steuergerechtigkeit in Deutschland aufwirft.
Die Deutsche Bank ist mit ihrem steueroptimierten Firmensitz in der Feuerwache keine Ausnahme unter den DAX-Konzernen. Gleich 15 der 40 größten deutschen Aktiengesellschaften haben zahlreiche Tochterfirmen in verschiedenen Steueroasen abseits der eigentlichen Firmenzentrale – insgesamt sind es mehr als 120 Tochtergesellschaften.
So hat etwa Siemens allein 39 Tochterunternehmen am Sitz einer Privatbank in Grünwald registriert. Wenige hundert Meter entfernt teilen sich acht Tochterfirmen des Immobilienkonzerns Vonovia ein Gebäude mit fast 700 weiteren Unternehmen. Daimler Truck und die Mercedes Benz Group haben je ein knappes Dutzend Tochterfirmen im brandenburgischen Schönefeld. Und die Deutsche Telekom ist 2019 mit zwei Vermögensverwaltungen von Bonn nach Monheim am Rhein gezogen. „Gewerbesteuervorteile gehen hiermit für die Deutsche Telekom nicht einher“, sagt ein Unternehmenssprecher. Mercedes Benz erklärt, man handle stets im Einklang mit Steuervorschriften, will sich zu Details jedoch nicht äußern. Die anderen genannten DAX-Unternehmen wollten das Thema nicht kommentieren.
Wer deutsche Steueroasen erkundet, stößt auch auf prominente Namen. Gleich fünf Firmen der Sängerin Shirin David haben ihren Sitz nicht in Berlin, sondern im brandenburgischen Zossen – in einem denkmalgeschützten Schlossbau, der 123 Firmen eine Adresse bietet.
Stefan Raabs Laheif GmbH hat ihren Sitz im Büro einer Steuerberatung in Leverkusen. Geschäftszweck ist laut Handelsregister die Durchführung von Events. Zudem hält das Unternehmen 90 Prozent an der Firma, die seit Raabs Comeback seine Sendungen produziert.
Rapper Kollegah, Influencerin Dagi Bee und der frühere Golf-Weltranglistenerste Martin Kaymer haben sich für Monheim am Rhein als Firmensitz entschieden.
Dort sind ihre Unternehmen an Adressen mit dutzenden oder gar hunderten weiteren Firmen gemeldet.
Ein Grund für die auffällige Firmenhäufung: An Adressen wie der von Dagi Bees Unternehmen bieten Dienstleister steueroptimierte Geschäftssitze an. Es ist ein Angebot, das es auch in nahezu allen anderen Steueroasen gibt, ob in Zossen, Lützen, Schönefeld oder Grünwald. Mal heißt es flexible Bürolösung, mal Co-Working, mal Virtual Office. Die Anbieter werben dafür, dass Unternehmen sich dort innerhalb kürzester Zeit einen repräsentativen Geschäftssitz sichern können – samt steuerlicher Vorteile. Einige Anbieter haben auf ihrer Website gleich einen Rechner integriert, um die mögliche Steuerreduzierung zu ermitteln.
Besucht man diese Adressen, stößt man oft auf menschenleere Gebäude. In manchen Fällen bietet sich ein Bild, das nur schwer mit dem eines repräsentativen Firmenstandortes in Einklang zu bringen ist. So wirbt ein Anbieter in Gräfelfing dafür, von den niedrigen Gewerbesteuersätzen zu profitieren und verspricht: „Anerkannt von Finanzämtern und der Gemeinde“. An der Adresse im Impressum findet sich ein Wohnblock über einem Eiscafé, gemeldet sind dort laut Handelsregister 25 Unternehmen. In Monheim am Rhein teilen sich als „postzustellfähigen repräsentativen Firmensitz“ 127 Unternehmen eine Doppelhaushälfte. „Wir schaffen die Plattform für Ihre persönliche Büro-Organisation, indem wir Ihre Post in Ihrem Firmennamen entgegennehmen“, wirbt der Anbieter.
Fragt man Finanzbehörden zu Gewerbesteueroasen, erhält man meist eine einhellige Antwort: Das Thema missbräuchlicher Steuergestaltungen von Unternehmen in Kommunen mit auffallend niedriger Gewerbesteuer sei bekannt. Sofern Behörden feststellen, dass ein Unternehmen nur zum Schein in einer Steueroase gemeldet ist und in Wahrheit woanders gearbeitet wird, würden sie entschieden dagegen vorgehen.
Auch die Bundesregierung sieht Handlungsbedarf. „Wir werden alle zur Verfügung stehenden administrativen Maßnahmen ergreifen, um derartigen Scheinsitzverlegungen in Gewerbesteuer-Oasen wirksam zu begegnen“, heißt es im aktuellen Koalitionsvertrag. Dafür soll die Untergrenze für den Gewerbesteuerhebesatz, aus dem sich die Höhe der Gewerbesteuer ergibt, von 200 auf 280 Prozent erhöht werden. Sollte der Ankündigung eine Gesetzesänderung folgen, wäre das ein effektiver Schritt in die richtige Richtung, sagt Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit. Gelöst wäre das Problem damit jedoch nicht. Damit es sich für Unternehmen nicht mehr lohnt, Gewinne in Steueroasen zu verschieben, müsste die bundesweite Untergrenze für die Gewerbesteuer noch höher angelegt werden, sagt er. Trautvetter nennt dazu einen Gewerbesteuerhebesatz von mindestens 315 Prozent. Doch derzeit zeigen sich mancherorts eher gegenteilige Entwicklungen.
Der Münchner Vorort Baierbrunn hat die Gewerbesteuer erst im April 2025 drastisch gesenkt – mit Verweis auf die im Koalitionsvertrag angekündigte Erhöhung. Die Begründung: Indem der Ort die reiche Nachbargemeinde Grünwald bei der Gewerbesteuer noch unterbietet, könne Baierbrunn „das kluge Zeitfenster nutzen“, um Unternehmen anzuziehen, bevor eine gesetzliche Vereinheitlichung kommt. Sofern sie denn tatsächlich kommt. Bisher ist der Plan der Bundesregierung nur eine von vielen Ankündigungen in einem 146 Seiten starken Koalitionsvertrag.
„Am Ende passieren Gesetzesänderungen, wenn das Problembewusstsein in der Öffentlichkeit groß genug ist“, betont Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit. In den Steueroasen gebe es eine ganze Reihe von Fällen, in denen Steuerhinterziehung ganz offensichtlich sei. Diese offensichtlichen Fälle sollten auch unabhängig von einer möglichen Gesetzesänderung aufgedeckt und bekämpft werden, sagt er.
Solange sich Gemeinden gegenseitig unterbieten und damit der Allgemeinheit jedes Jahr mehr als eine Milliarde Euro für öffentliche Aufgaben verloren gehen, hilft aktuell vor allem eines: ein genauer Blick auf deutsche Steueroasen.
Die Karte zeigt alle gemeldeten Unternehmen in den von uns identifizierten deutschen Steueroasen: 37 Gemeinden, in denen Unternehmen nur eine sehr niedrige Gewerbesteuer zahlen müssen und in denen zugleich überdurchschnittlich viel Gewerbesteuer eingenommen wird.
Sie zeigt nicht nur Vermögensverwaltungen und Immobilienholdings, Hauptsitze und Tochterfirmen finanzstarker Konzerne, sondern auch alle weiteren ortsansässigen Unternehmen, die laut Handelsregister ihren Sitz in den ausgewählten Gemeinden haben – ob Handwerker, Bäckerin oder Einzelhandel.
Die Darstellung in der Karte bedeutet nicht, dass sich ein Unternehmen falsch verhält. Wir geben keine Bewertung darüber ab, warum ein Unternehmen seinen Sitz in einer Steueroase hat. Mehr im FAQ zur Karte.